Wenn wir den Fokus verlieren….

William Sutcliffe

Concentr8

rowolth rotfuchs
ISBN: 978-3-499-21739-5

Sie haben die Concentr8-Lieferung eingestellt. Seit Jahren wird das Medikament in London unter den verhaltensauffälligen Jugendlichen verteilt und dann von einem Tag auf den anderen versiegt der Nachschub. Daraufhin brechen Aufstände in der Stadt aus. Die 5 Jugendlichen, Troy, Femi, Lee, Karen und Blaze sind eigentlich nicht auf Ärger aus, doch dann entführen sie spontan einen Mitarbeiter des Bürgermeisters und halten ihn für 6 Tage in einem alten Lagerhaus gefangen. Wie kommen sie da wieder raus – oder, ist das überhaupt wichtig? Hat die Gesellschaft sie nicht sowieso schon abgeschrieben?


In Concentr8 betrachtet William Sutcliffe eine Zukunft, die nicht unbedingt weit entfernt von der Realität sein könnte. Eine übertriebene Darstellung der Wirklichkeit, die eigentlich wenig mit phantastischer Literatur in Zusammenhang steht – oder – hoffentlich doch steht! Trotzdem möchte ich das Buch gern vorstellen, da ich es als lesenswert erachte. Thematisiert wird hier zum einen der Umgang mit ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung), bzw. eigentlich die Behandlung mit dem Medikament Ritalin oder hier dem fiktionalen Pharmazeutikum namens Concentr8. Auf der anderen Seite steht der Einblick in die Psyche oder Gedankenwelt der jugendlichen Protagonisten. Die Geschichte wird jeweils aus der Ich-Perspektive der verschiedenen Charaktere erzählt und aufgebaut. Neben den Kindern erfährt der Leser so auch die Gedanken und die Wahrnehmung der Geisel, dem Bürgermeister oder einer Journalistin. Als spannendem Aspekt gibt Sutcliffe jedem Charakter seinen eigenen Sprachstil und seine eigene Ausdrucksweise. In einigen Fällen überschneiden sich die Erlebnisse in den Beschreibungen der Protagonisten. Hier erhält man einen direkten Vergleich zwischen Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung durch andere Menschen.  
Zusätzlich beginnt jedes Kapitel mit Auszügen aus Literatur, Interviews oder Twitterkommentaren zum Thema Ritalin und ADHS – in diesem Fall nicht fiktiv. 
Ein wenig bekommt man den Eindruck, dass Buch sei direkt als Schulstoff verfasst – die Möglichkeiten zur Diskussion mit Jugendlichen zu den Themen Gewalt, Zukunftsperspektiven oder auch dem pauschalen Einsatz von Medikamenten bietet sich geradezu an. Fast scheint es, als hätte der Autor es aus eben diesem Grund überhaupt nur geschrieben. Tatsächlich lohnt sich der Roman aber gerade aus diesem Grund, auch wenn es für manch einen im ersten Moment abschreckend klingt. Ich hatte mich selbst bisher kaum mit ADHS beschäftigt und auch noch keinen Kontakt zu den kritischen Betrachtungen, auf die man durch Concentr8 gestoßen wird. Man beginnt fast automatisch selbst ein wenig zu recherchieren, sollte man zumindest, denn Hintergrundinformationen sind im Buch rar gesät.
Gleichzeitig ist mir hier aber die Betrachtung der Anwendung von Ritalin/Concentr8 zu einseitig kritisch. Neutrale oder gar positive Einblicke in die Anwendung sucht man vergeblich. Bleibt zu hoffen, dass dieses Buch die Leser immer zu gesundem und logischem Nachdenken anregt, denn die Kritik ist stellenweise schon fast wieder zu platt eingesetzt.
Ob die Jugendlichen wirklich über ihre eigene Zukunft reflektieren, wie es hier zum Teil die einzelnen Charaktere tun, ist eine spannende Frage, die man am besten mit ebendiesen diskutiert. Ich denke, diese Buch lebt vom Austausch mit anderen Lesern und  aus genau diesem Grund kann ich es mir sehr gut im Schulunterricht vorstellen. 


Zu Recht nominiert für den YA Book Prize und die Carnegie Medal 2016 kann ich das Buch als spannende, gesellschaftskritische Literatur für Jugendliche ab 15 und natürlich Erwachsene empfehlen – mitdenken vorausgesetzt.  

G.W. 11.10.2016