Silber, Gold, Magie und ein eisiger Winter
Rezension zu „Das kalte Reich des Silbers“ (Spinning Silver) von Naomi Novik
Geschmäcker sind unterschiedlich, und nicht jede Geschichte ist für
jeden Leser gemacht. Da sind wir uns wohl alle einig. Für mich zum
Beispiel fallen Märchenadaptionen in die Mag-ich-nicht-wirklich-lesen
Kategorie, vermutlich weil ich nicht der größte Fan ausgiebiger
Liebesgeschichten bin, die in diesen Büchern meist eine eher
übergeordnete Rollen spielen.
Allerdings, und das können bestimmt viele von uns nachvollziehen, gibt
es Autoren, denen folge ich überallhin. Da spielt das Genre keine
wirkliche Rolle. Naomi Novik ist so eine Autorin. Von ihren
Fanfiction-Geschichten zu ihrer drachenstarken Temeraire-Reihe, bis zu –
ja, nun. Bis zu Märchenadaptionen. Ungewöhnliche zwar, mit Motiven aus
der polnischen Kultur, anstatt des ausschließlichen Bezugs auf Grimm
oder Andersen, aber halt doch genug Märchen, dass es eigentlich nicht so
wirklich in mein Fantasybuch-Beuteschema passt.
Könnte man meinen. Denn als „Das dunkle Herz des Waldes“ (Uprooted)
erschien, hab‘ ich das Buch verschlungen und geliebt, Märchenmotive hin
oder her. (Übrigens könnt ihr hier im Blog auch meine Rezension dazu
lesen.)
Klar also, dass ich „Das kalte Reich des Silbers“ auch lesen würde.
Hach, und was bin ich froh darum. Eine Geschichte, die polnische und
russische Elemente mit jüdischer Symbolik verknüpft und das Ganze schön
mit Magie durchmengt, eine Art Rumpelstilzchen trifft auf Hades und
Persephone, mit einem Hauch Schöne und das Biest. Das macht Spaß!
Viermal hab‘ ich mich verliebt beim Lesen dieses Buch, in vier Charaktere, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Da ist Miryem, die Tochter eines Geldverleihers, die schon früh die
Arbeit des Vaters übernahm, um die Familie durchzubringen, und die so
schon früh gelernt hat, sich mit Verstand und Tücke durchzusetzen. Sie
ist nie um eine Antwort verlegen und hat sich mit ihrer direkten,
unnachgiebigen Art direkt in meine Top Ten der besten Buch-Charaktere
katapultiert.
Irina, die als eher unscheinbare Tochter eines mittelwichtigen Barons
nie viel Beachtung erfahren hat, sich aber genau deswegen still und
leise jenes Wissen und diplomatische Geschick angeeignet hat, welches
ihr nun in ihrer unerwarteten Rolle als Zarin zugutekommt – und ihr
vielleicht sogar das Leben rettet.
Und dann ist da noch Wanda. Oh, Wanda. So anders ist sie, so einfach und
so komplex, lebensklug und anpassungsfähig, und so hoffnungsvoll, trotz
der verstauchten Seele, die von jahrelanger Gewalt durch ihren Vater
geprägt, auch erst die Liebe zu ihren Brüdern wiederentdecken muss.
Drei Erzählperspektiven, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Jede davon ist so authentisch, dass keine der unzähligen Rätsel und
Wendungen der Geschichte, und keine der unerwarteten Dinge, die Miryem,
Irina und Wanda tun, jemals wirklich unerwartet kommen.
Aber warte, Anne, du hast doch gesagt, du hättest dich viermal
verliebt?! Stimmt. Meine vierte große Liebe in diesem Buch ist der
Staryk-King selbst, eine Art Feenlord, der im Land des Winters wohnt und
Miryems großer Widersacher ist. Er ist stolz, der König des
Staryk-Volkes, und unnachgiebig wie Diamant. Auch grausam kann er sein,
und trotzig, und obwohl er unfähig ist zu lügen, darf man ihm kein
Schlupfloch lassen, oder er nutzt es gnadenlos aus. Aber er ist auch
ehrenwert und loyal, und bereit, alles zu geben für sein Volk – sogar
sein eigenes Leben. (Und so ganz hässlich wird er natürlich auch nicht
beschrieben, aber das ist natürlich nur Nebensache. *räusper*)
Alles in allem ist dieses Buch ein durch und durch gelungenes
Fantasy-Spektakel, mit Charakteren, die einem noch lange im Gedächtnis
bleiben und spannenden Plotwendungen, die einen immer wieder innehalten
und denken lassen – wow, das hab ich jetzt echt nicht kommen sehen.
Fazit: Spannend, trickreich, atmosphärisch. Ein perfektes Buch für die
kältere Jahreszeit, zum Einmummeln und Mitfiebern und gerührt sein und
verstehen, was Familie alles bedeuten kann.